Ein Besuch der neuen Oper ’Another Brick In The Wall – L’Opéra’

Nach der Pause nahm das Publikum die Plätze wieder ein. Der Beginn des zweiten Aktes war eine kleine Überraschung: Statt mit ‘Hey You’ ging es mit ‘Is There Anybody Out There’ weiter, ‘Hey You’ kam erst im Anschluss. Der Grund für diese Änderung war für mich nicht erkennbar, aber es hat auch keinen negativen Einfluss auf den Fluß der Erzählung. Es ist schade, dass ich nicht in der Lage bin das optische Geschehen besser in Worte zu fassen, aber das ist wohl eine prinzipielle Schwierigkeit. Es vergeht keine Sekunde in dem das Bühnenbild nicht in irgendeiner Weise in Bewegung zu sein scheint. Die hochauflösenden Projektionen sehen äußerst realistisch, klar und kontrastreich aus und es macht einfach eine Menge Spaß zu sehen, welche vielfältigen Einfälle hier bei der Produktion verarbeitet wurden. So kann man beispielsweise einem Zoom in ein reales, weibliches Auge folgen, dessen schwarze Pupille schließlich zum ‘Mr Screen’ mit dem üblichen Strahlenkranz aus beweglichen Scheinwerfen wird – schöne Reminiszenzen an Pink Floyd.

Etwas völlig Neues geschieht beim Song ‘Vera’: Die Bühne verwandelt sich in einen großen, prachtvollen Ballsaal, in dem viele Paare romantisch unter Kronleuchtern zum originalen Song ‘We’ll Meet Again’ von Vera Lynn tanzen. Alle Paare sind gekleidet wie zur Zeit der Vierziger Jahre, als das Lied ein Radiohit in England war. Er erzählt vom traurigen Abschied der Frauen, die ihre Männer in den Krieg ziehen lassen müssen und verspricht, dass man sich wiedersehen wird “an einem sonnigen Tag”. Die Männer tanzen folgerichtig überwiegend in Uniform, die Frauen in passenden zivilen Kleidern. Die britische Sängerin Vera Lynn, die übrigens gerade stolze 100 Jahre alt geworden ist (und ein neues Album herausgebracht hat), steht als Dargestellte neben der Bühne, singt das Lied im Original und das Orchestra spielt zum ersten Mal keine neue Opernmelodie, sondern den bekannten britischen Schlager aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Ein großartiger Einfall und ein Nachweis auf welche vielfältige Weise das Originalwerk ‘The Wall’ neu interpretiert werden kann.

Und danach gleich eine weitere Überraschung: Auch ‘Bring The Boys Back Home’ wird nahezu in der Originalmelodie auf die Bühne gebracht. Das erste Mal, dass ein Song aus dem Album vom Orchestra fast 1:1 gespielt wird – unterstützt von einem großartigen, stimmgewaltigen Chor, der mich, aufgrund seiner machtvollen Präsenz, fast in den Sitz gedrückt hat. Die beiden Seitenteile wurden inzwischen mittig zusammengefahren, verdeckten den LED-Screen, und bildeten nun einen flachen Hintergrund auf dem das berühmte ‘Eisenhower’-Zitat projiziert wurde – genau wie bei den Waters-Konzerten, jedoch in einer neutralen Schriftart: “Every gun that is made, every warship launched, every rocket fired signifies, in the final sense, a theft from those who hunger and are not fed, those who are cold and not clothed.”

‘Comfortably Numb’ bleibt im Vergleich zur Albumversion musikalisch aus meiner Sicht sehr farblos. Kein Wunder, als Pink Floyd-Fan verbindet man mit dem Original einen Höhepunkt des Albums. Das kann eine neue musikalische Interpretation offenkundig nicht leisten zumal das Gitarrenspiel von David Gilmour bei einer Oper überhaupt keine Rolle spielen kann. Ein Orchester hat wohl keine vergleichbare Ausdrucksmöglichkeit und auf diesen Song eine neue Melodie zu legen, gleicht einem von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch.

‘The Show Must Go On’ war der Opener für das letzte Viertel der Vorstellung. Die beiden großen Seitenteile wurden nun von hinten beleuchtet und zeigten so die Schatten von Menschen, die in einem Gatter oder in einem Käfig gefangen zu sein schienen. Pink war nun mit nach hinten gegeelten Haaren und martialischem Äußeren auf der Bühne erschienen und erinnerte damit erneut an Alan Parkers Spielfilm und an Bob Geldof in der Rolle des faschistisch agierenden Rockstars.

Bei ‘Run Like Hell’ versuchte eine Reihe von Darstellern auf der Bühne in Richtung der Zuschauer “wegzulaufen”, sie blieben jedoch wie in einem Alptraum am Platz und bewegten sich keinen einzigen Meter.

Inzwischen hatte man die beiden Seitenteile umgedreht und konnte nun erkennen, dass es sich bei den “Menschen im Gatter” um das Publikum von Pink handelte, welches seinen Star frenetisch feierte und die von Pink angezettelte Gewalt unterstützte. Vielleicht eine optische Metapher darauf, dass das Publikum durch seinem Star in seinem Denken gefangen war.

‘Waiting For The Worms’ wurde ebenfalls in konzeptionell bekannter Weise auf die Bühne gebracht. Punktscheinwerfer versuchten die Personen zu identifizieren, die Pink auf der Bühne in seiner Allmachtsfantasie aus perfiden Gründen angriff. Seine ‘Security‘ war mit Maschinengewehren ausgestattet. Das Geschehen schwappte sogar in den Zuschauerraum über: Links und rechts neben der Bühne wurden durch die „Sicherheitsleute“ (oder waren es Soldaten?) Menschen verhaftet. Auf der Bühne wurden die Gefangenen in orangefarbene Overalls gesteckt – wohl in Anlehnung an die Gefangenen der US-Regierung im berüchtigten Lager ‘Guantanamo Bay’. Das Ganze bekam durch die sehr gekonnte Inszenierung eine auffallend bedrückende und verstörende Stimmung und als Zuschauer fühlte man sich zunehmend unwohl – bis es dann schließlich endlich zum erlösenden ‘Stop!’ kam.

‘The Trail’ wurde ebenfalls komplett im Original übernommen. Hier wunderte ich mich nicht. Das Stück ähnelt im Original ohnehin einer Oper von Kurt Weill und der Text hätte auch von Bertold Brecht stammen können. Dass es sich beim Geschehen auf der Bühne nicht um eine reale Gerichtsverhandlung handelt, sondern um etwas, was in Pink’s wirrem Kopf vor sich geht, wurde durch die neuen erstmals unrealistischen Kostüme der Darsteller mehr als deutlich unterstützt. Ankläger, Lehrer, Ehefrau, Mutter und Richter hatten eine Art Vogelkostüm an, die dieser absurden Szenerie einen besonderen Rahmen verlieh.

Der Mauereinsturz am Ende wurde durch eine Projektion auf dem riesigen LED-Screen gezeigt – auch hier angelehnt an die filmische Umsetzung durch den britischen Regisseur Alan Parker. Die Mauer brach nicht zusammen, sie explodierte regelrecht. Das Bühnenlicht ging aus und hüllte die Szene nahezu in Dunkelheit aus der später einzelne “Trümmer” auftauchten und weißer Rauch durch eine spärliche Beleuchtung sichtbar wurden.

Dann trat der gesamte, fast fünfzig Personen große Chor auf und sang ‘Outside The Wall’ – ebenfalls in der Originalmelodie, jedoch mit einer bisher nicht gehörten Präsenz. In der Vergangenheit lebte der Song von seiner Schlichtheit und der sehr einfachen Melodie. Heute war er ein Gänsehaut-erzeugender, großartiger, brachialer Abschluss, ein kraftvoller Schlusspunkt der Oper, der gegen Ende jedoch immer leiser wurde und schließlich klanglich im Dunkel der Bühne verschwand. Man konnte eine Stecknadel fallen hören, bevor schließlich der lang anhaltende Schlussapplaus einsetzte und die Aufführung, seine Initiatoren, Musiker und Darsteller mit stehenden Ovationen belohnte. Auf der länglichen Leinwand oberhalb der Bühne erschien der Halbsatz: “Is this where…”

Die gesamte Oper dauerte etwa zwei Stunden und war damit erheblich länger als das Originalalbum. Einschließlich der Pause war die Aufführung damit um etwa 22:00 Uhr beendet.

Am Ende möchte ich – wie versprochen – noch ein paar Zahlen und Daten aus dem Programmheft zitieren, um einen Eindruck von der Größe der Produktion zu vermitteln: 4k Projektionen, ein 21x21ft großer LED-Screen, zwei Kinder, drei Lkw mit Material, acht Solisten, acht Projektoren mit jeweils 20.000 Watt Leistung, zehn Aufführungen in Montréal, 20 Statisten, 46 Chormitglieder, 70 Musiker, 234 Kostüme und 2.911 Zuschauer pro Aufführung.

Ich denke, ich bin mit der richtigen Erwartungshaltung in diese Oper gegangen. Ich hatte eine “Transformation” des Stücks / der Erzählung ‘The Wall’ mit dem Libretto (Lyrics) von Waters, neuer, orchestraler Musik und ausgebildeten, präsenten Stimmen erwartet. Ich erwartete keine E-Gitarren, keinen David Gilmour oder Roger Waters auf der Bühne! Ich erwarte eine Aufführung auf dem Stand der Technik, mit guter Akustik und enthusiastischen und engagierten Mitwirkenden in einem coolen Bühnendesign und tollem Chor. Das waren wohl die besten  Voraussetzungen, um einen besonderen Abend in Montréal zu erleben, der mir ‘The Wall’ auf ganz andere, neue und bewegende Weise näher gebracht hat und tatsächlich – das kann ich nun mit Überzeugung sagen, meinen Horizont etwas erweitern konnte. Meine Erwartungen wurden gänzlich erfüllt und in optischer Hinsicht sogar deutlich übertroffen. Die neue Musik muss ich wohl noch besser kennenlernen, aber insgesamt ist dies ein großartiges neues Werk, das ‘The Wall’ als Pate eigentlich nicht nötig hat und auch ganz alleine bestehen könnte.

Meine Reise in die kanadische Metropole Montréal hat sich damit definitiv gelohnt!

Martin Geyer

Danke Martin für Bericht & Fotos!!

3 Antworten

  1. Avatar ChrisHB sagt:

    Ein wirklich spannender Bericht!!!! Vielen Dank !!!!

  2. Avatar Micha sagt:

    Naja…The Wall als Oper…nun ja…wenns sein muss. Finde ich jetzt nicht so wirklich spannend…

  3. GeckoFloyd GeckoFloyd sagt:

    Danke Martin für diesen super Bericht, man spürt beim Lesen Deine Begeisterung, und löste bei mir das Gefühl aus, was wäre ich gerne neben Dir gesessen 😉 Weiss man schon, ob das Werk bald auf CD erhältlich sein wird? Mich würde die musikalische Interpretation – auch als Opern-Laie – sehr interessieren. So wie Du das eindrucksvoll schilderst, scheint das wohl – für mich – nicht so “schwer-verdaulich” zu sein, wie CA IRA. 😉 Schönes WE + Cheers.

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